Der Charme des Familienfestes ist die Tradition – und das mehr oder weniger feste personelle Inventar. Heissgeliebte Omas, trinkfeste Onkel, garstige Tanten und großzügige Geschenkverteiler – jeder Clan hat seine eigene Besetzung, und manchmal werden die Rollen von Generation zu Generation weitervererbt…
Ein 65. Geburtstag
Irgendwann Mitte Juli flatterte ein an mich adressierter Briefumschlag ins Haus; Absender war mein Vater. Da sich unser „Briefkontakt“ seit meinem Auszug vor 21 Jahren darauf beschränkt, dass ich ihm bei Besuchen zu Hause leere Briefumschläge mitbringe, kam das einer Sensation gleich.
(Die Sache mit den Briefumschlägen ist die: Mein Vater geht einem ebenso edlen wie vom Aussterben bedrohten Hobby nach – er ist Philatelist. In meiner Grundschulzeit prahlte ich gerne damit, dass er sämtliche Briefmarken der Bundesrepublik Deutschland besitzt, dazu mehrere Alben „Weimarer Republik“ sowie eine bunte Sammlung exotischer Exemplare aus Namibia oder „Deutsch Süd-West“.)
Dieser Briefumschlag war jedoch nicht leer, sondern enthielt eine Einladung meines Vaters zu seinem 65. Geburtstag. Ort der Feierlichkeit sollte sein Geburtsort sein, ein Klostergut im tiefsten Westfalen. Die weitläufige Hofanlage rund um die imposante gotische Kirche (der Baustil mag auch Spätromanik sein …) ist eingebettet in eine wunderschöne Landschaft, die von bewaldeten Hügeln geprägt ist. Als Kind verbrachte ich dort gefühlt jedes Wochenende.
Familie ist, wenn alle da sind
Der letzte 65. Geburtstag, an den ich mich erinnere, fand 1980 statt. Ich war damals sieben und meine Oma feierte. Anwesend waren all die Menschen, die unsere Familie bildeten. Meine Tanten mit Männern und Kindern, angeheiratete verwitwete Onkel, entferntere Verwandte, die aufgrund gemeinsamer Familiengeschichte und zuweilen tragischer Ereignisse eng in das Beziehungsgeflecht eingewoben waren, in dessen Zentrum meine Oma alles am Laufen hielt. Da waren die zwei Großonkel, die nach dem zweiten Bier anfingen sich lautstark über Politik zu streiten, Vettern mit lustigem badischen Dialekt, die verstohlene Geste, mit der einer der beiden Streithähne mir ein Fünfmarkstück zusteckte und der große Moment, wenn meine Oma den guten Cognac aus dem Schrank holte – kurz, es war wie immer. Und das war wahrscheinlich das vorherrschende Gefühl für mich. Ein gutes Gefühl.
Mittlerweile ist meine Oma schon lange tot, genauso wie der Fünfmarkstückonkel. Zwei meiner Vettern mit dem badischen Zungenschlag wohnen mittlerweile auch in Hamburg. Manchmal wechseln wir ein paar Worte im Vorübergehen, wenn wir uns an Spieltagen vor dem Millerntorstadion begegnen.
Familie ist, wenn (fast) alles wie immer bleibt
Nun also wieder ein 65. Geburtstag. Mit gerade noch akzeptabler Verspätung tauchten wir zum Begrüßungssekt auf.
Nach einer kurzen Vorstellungsrunde stand der Kirchgang an. Dieser entpuppte sich als Gesangsrunde in der kleinen evangelischen Kapelle des Gutes. Dabei arbeiteten wir uns singenderweise durch alle zehn Strophen eines verstörenden Liedes, das augenscheinlich die durch den 30-jährigen Krieg verursachten Traumata aufarbeitete. „Hauptsache laut singen“ hatte mir unser ehemaliger Nachbar als Ratschlag mit auf den Weg gegeben. Und selten habe ich einen besseren erhalten …
Mit dem Mittagessen lockerte sich das Ganze. Schnell fanden sich Grüppchen, die der Feldmark ein gepflegtes Bier vorzogen und die üblichen „Was machst Du jetzt eigentlich“-Fragen austauschten.
Irgendwann nach dem unvermeidlichen „Kaffeeundkuchen“ verabschiedeten sich die meisten Gäste und es breitete sich eine Stimmung aus, die entsteht, wenn die Nüchternheit nachlässt und sich gemeinsame Geschichte breitmacht. Dazu trug auch die „Vördener Mispel“ bei, eine lokale Spirituose, die aus der gelben Frucht eines Kernobstgewächses gebrannt wird. Davon hatte ich zwar noch nie etwas gehört, aber der Sohn des Fünfmarkstückonkels hielt mir umgehend einen begeisterten Vortrag und drückte mir selbstlos sein Glas in die Hand. Und tatsächlich: Ich kann die „Vördener Mispel“ jedem Freund eines hochprozentigen Verteilers nur empfehlen! Allemal besser als Cognac, wenn man mich fragt …
Später am Abend zeigten meine beiden Brüder Kartentricks, die vor allem den Sohn des Fünfmarkstückonkels tief beeindruckten. Er witterte für meine Brüder die große Chance auf eine Weltkarriere auf den Showbühnen dieser Welt. Irgendwann ging er vor die Tür – vielleicht auf der Suche nach einem Geistesblitz, der ihm die Magie erklären konnte.
Die Lösung fand er in Form einer „Abkürzung“: Kurz darauf kam meine Tochter freudestrahlend zurück an den Tisch und wedelte mit einem Fünf-Euro-Schein. Sie hatte den Trick meines Bruders – besser gesagt: seine Auflösung – an den Sohn des Fünfmarkstückonkels verkauft.
Bei der Abreise beschloss ich, einen kleinen Vorrat an Fünf-Euro-Scheinen anzulegen. Jeder sollte vorbereitet sein, denn der nächste 65. Geburtstag wartet schon irgendwo…
Text und Foto: Martin für fett.